Vom Streit zum Wettstreit
Lessings Ringparabel und die Frage nach religiöser Wahrheit und Toleranz
Religionen erheben einen Anspruch auf Wahrheit. Doch da dies alle Religionen tun, heben sich deren Ansprüche gegenseitig auf. Welche Religion ist also die wahre? Die eigene? Eine andere? Keine? Oder können es doch alle sein?
Wo sich Religionen begegneten, reifte schon früh die Erkenntnis, dass Rechthaberei und Streit der Suche nach der Wahrheit abträglich sind. Gelehrte und Künstler machten sich Gedanken über die Frage, wie der Anspruch der Religionen auf offenbarte Wahrheiten und das Gebot der Toleranz und des Friedens zueinander passten. Dazu nutzen sie immer wieder das Medium der Erzählung.
Bausteine dieser Unterrichtreihe sind (zur individuellen Vorbereitung und zur Klärung der Intention des Unterrichts) ein Blogbeitrag sowie sechs narrative Textbausteine aus sechs Jahrhunderten.
Zusammenstellung und Erarbeitung: Horst Heller
Bausteine | Medium | Didaktischer Kommentar | Materialien |
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Text 1 | Al Madhi, Die Perle im dunklen Haus. Eine Parabel aus Bagdad (8. Jahrhundert) | Diese Parabel wird als Beitrag in einem Religionsgespräch überliefert. Weil sterbliche Menschen nie herausfinden werden, welche Religion die wahre ist, empfiehlt sie Toleranz aus Bescheidenheit. |
Text 2 | Anonymus, Eine Ringparabel aus Florenz (13. Jahrhundert) – aus “Il Novellino” | Die frühe Fassung eines unbekannten christlichen Autors aus Florenz spricht positiv von Juden und Muslimen und stellt fest, dass sie alle auf der Suche nach der Wahrheit sind. |
Text 3 | Giovanni Boccaccio, Eine Ringparabel (14. Jahrhundert) – aus “Decamerone” | Zwei Generation später später fügt Boccaccio der Ringparabel eine „moderne“ Erkenntnis hinzu. Sie sieht in den Gläubigen der drei abrahamischen Religionen geliebte Kinder Gottes. |
Text 4 | Gotthold Ephraim Lessing, Die Ringparabel aus “Nathan der Weise” (1778) | Lessing nimmt die Version Boccaccios auf und erweitert sie durch die Ideale seiner Aufklärungsphilosophie. Den Religionen empfiehlt er den Streit um die Wahrheit zu beenden und in einen Wettstreit um das Gute einzutreten. |
Text 5 | “Darum sollt ihr um die guten Dinge wetteifern!” (Koran, Sure 5,48) | Der Gedanke, dass die Vielfalt der religiösen Orientierungen einen Wettstreit um gutes Handeln befördern soll, findet sich bereits im Koran. |
Text 6 | Abu Sulaiman, Das Gleichnis von der Karawanserei | Der Autor vergleicht seine eigenen Religion mit einem Zimmer, in das es hineinregnet und reflektiert die Optionen einer Konversion und eines religionslosen Lebens. |
Alle Texte in einem editierbaren Format Die Unterrichtsreihe als PDF | ||
Literatur und Links | H. Küng, K.-J. Kuschel, A. Riklin, Die Ringparabel und das Projekt Weltethos, 2/2010 Hannah Arendt: Freundschaft in finsteren Zeiten. Gedanken zu Lessing. Die Lessing-Rede mit Erinnerungen von Richard Bernstein, Mary McCarthy, München 1998 Daniel Schreiber, Allein, Hanser Berlin, 2021 | K. J. Kuschel, Die Parabel von den drei Ringen (islam-wolfsburg.de) Horst Heller, Es regnet in der Karawanserei. Warum ich meiner Religion und meiner Kirche dennoch treu bleibe. Horst Heller, Religiöse Vielfalt ist ein Anreiz, um das Gute zu wetteifern. (online ab Nov 2023) |
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Vom Streit zum Wettstreit (my relilab) von Horst Heller , Lizenz: CC BY-SA .
Links zu den Bildungsplänen
- Religion und Religionen (Saarland)
Sechs narrative Texte zur Frage nach religiöser Wahrheit und Toleranz aus zehn Jahrhunderten
Die Perle im dunklen Haus
Wahre und falsche Religion voneinander zu unterscheiden, ist dem sterblichen Menschen nicht möglich. Diese nüchterne Einsicht führt aber nicht zum Religionsstreit, sondern zu einem friedlichen Gespräch zwischen Vertretern des christlichen und muslimischen Glaubens. Die Parabel wirbt für Toleranz, denn religiöse Bescheidenheit gebietet Wertschätzung gegenüber Andersgläubigen.
“In tausend Jahren … ein weis’rer Mann als ich …”
Tausend Jahre später, im Sommer 1778 veröffentlichte Gotthold Ephraim Lessing seinen „Nathan der Weise”. In dieses Drama flocht er eine Erzählung ein, die bereits in zwei Versionen aus dem 13. und 14. Jahrhunderts vorlag. Lessing hatte sie zweifellos auch in seiner Bibliothek gelesen. Er verband dieses Traditionsgut mit den Idealen der Aufklärung.
Regen in der Karawanserei
Wenn Nathan recht behält, wird die Frage nach der wahren Religion erst „in tausend Jahren“ entschieden. Möglicherweise wird sich dann aber herausstellen, dass alle Religionen nur unvollkommene Abbilder der Wahrheit Gottes sind. Angesichts dieser Skepsis stellt sich die Frage, ob ein Mensch nicht ebenso Muslim, Jude oder Agnostiker werden könnte. Eine Antwort auf diese Frage gibt eine tausend Jahre alte Geschichte aus Bagdad.
Dieses Material basiert auf einer Kopie der OER "Rut & Noomi".